In den kanonischen Evangelien finden wir nur bei Matthäus die faszinierende Geschichte der Wache am Grab Jesu (Matthäus 27,62-66; 28,4.11-15). Die Geschichte hat eine apologetische Absicht: die Widerlegung der Behauptung, die Jünger Jesu hätten seinen Leichnam gestohlen, um seine Auferstehung vorzutäuschen. Hinter der Geschichte, wie Matthäus sie erzählt, scheint eine Überlieferungsgeschichte der jüdisch-christlichen Polemik zu liegen, ein sich entwickelndes Muster aus Behauptung und Gegenbehauptung: [1]
Judenchrist: „Der Herr ist auferstanden!“
Jude: „Nein, seine Jünger haben seinen Leichnam gestohlen.“
Judenchrist: „Unmöglich! Das hätte die Grabwache verhindert.“
Jude: „Die sind eingeschlafen.“
Judenchrist: „Das behaupten die nur, weil die Hohenpriester sie entsprechend bestochen haben.“
Unter den vier kanonischen Evangelisten erwähnt allein Matthäus die Grabwache (Johannes erwähnt eine Wache im Zusammenhang mit der Gefangennahme Jesu; vgl. Markus 14,44). Wir finden die Geschichte jedoch auch im apokryphen Petrusevangelium, wo sie gut unabhängig von Matthäus sein kann, da die sprachlichen Übereinstimmungen praktisch nicht vorhanden sind. [2]
Bei Matthäus bitten die Hohenpriester und Pharisäer am Samstag, also am Sabbat (Matthäus vermeidet interessanterweise den Ausdruck „Sabbat“ und spricht vom „nächsten Tag, der auf den Rüsttag folgt“) [3] Pilatus um eine Wache zur Sicherung des Grabes, damit die Jünger nicht Jesu Leichnam stehlen und seine Ankündigung, am dritten Tage aufzuerstehen, auf diese Weise „erfüllen“. Pilatus sagt: „Da habt ihr die Wache; geht hin und bewacht es, so gut ihr könnt.“ Es ist nicht klar, ob dies bedeutet, dass Pilatus ihnen eine römische Wache gab oder sie anwies, ihre eigene Tempelwache zu benutzen. Das Petrusevangelium benutzt eine römische Wache, aber dies ist wahrscheinlich eine Interpretation der Überlieferung, die die Stärke der Wache hervorheben soll. Wenn ich hier ein psychologisches Element erwähnen darf: Pilatus dürfte zu diesem Zeitpunkt so von den Juden genervt gewesen sein, dass es einen nicht wundern würde, wenn er sie abgewiesen hätte, aber Legenden kennen keine psychologischen Grenzen. Falls Pilatus die Juden tatsächlich abblitzen ließ, ist die Frage, warum dieser Teil der Geschichte überhaupt erwähnt wird, aber wenn die Juden wirklich zu Pilatus gingen, dann blieb dieses Detail vielleicht in Erinnerung. Wenn Pilatus ihnen eine römische Wache zur Verfügung stellte, ist es merkwürdig, dass Matthäus dies nicht (wie das Petrusevangelium) explizit erwähnt, da das seine Apologetik stärken würde. Die Tatsache, dass einige aus der Wache nach der Auferstehung zu den Hohenpriestern gingen, um ihnen Bericht zu erstatten, zeigt, dass Matthäus wohl an eine jüdische Wache dachte; man vergleiche hier wieder das Petrusevangelium, wo die römische Wache Pilatus berichtet, was an dem Grab geschehen ist. Die Erwähnung des Statthalters in Matthäus 28,14 könnte wiederum auf eine römische Wache hindeuten, aber dann wäre nicht klar, wie die Juden die Männer der Wache hätten decken können. Auch dass römischen Soldaten, die beim Wachdienst einschliefen oder die bestechlich waren, die Hinrichtung drohte, deutet eher auf eine jüdische Wache hin. Im Petrusevangelium erscheinen die Bestechung und das Einschlafen nicht; Pilatus weist die römische Wache einfach an, den Mund zu halten. Hält man die Geschichte unter dem Strich für echt, wird man eher von einer jüdischen Wache ausgehen; ist man dagegen sicher, dass die Geschichte eine wertlose Legende ist, hindert einen nichts daran, an eine römische Wache zu glauben.
Die Wache kommt also, und das Grab...
Fortsetzung hier: https://de.reasonablefaith.org/schriften/wissenschaftliche-schriften/die-wache-am-grab-jesu.
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