Der deutsche Philosoph und Theoretiker Karl Marx (1818-1883) war der Vater der marxistischen Theorie, der die Auffassung vertrat, dass die Geschichte der Gesellschaft von einem Klassenkampf zwischen Unterdrückten und Unterdrückern geprägt ist. Marx vertrat auch mehrere Ideen zur Rolle und Funktion der Religion, die uns hier interessieren werden.
Marx' konventioneller Glaube und Skepsis gegenüber der Religion
In seiner Schul- und Jugendzeit nahm Marx das Christentum konventionell an, lehnte aber später an der Berliner Universität den christlichen Glauben aus philosophischen Gründen ab. Dort lernte Marx die Philosophie näher kennen, insbesondere die Ideen des Idealisten Georg Wilhelm Friedrich Hegel (gest. 1831). Seine Vorliebe für die Philosophie wuchs und er fühlte sich zu den Junghegelianern hingezogen, einer Gruppe, die Teil des so genannten "Doktorklubs" war. Diese Gruppe bestand aus Gymnasiallehrern, Universitätsdozenten und mehreren angesehenen Akademikern wie Bruno Bauer (Theologiedozent), Karl Koppen (Geschichtslehrer) und Ludwig Feuerbach (Philosoph und Anthropologe). Sie trafen sich in einem kleinen Café und in privaten Räumen, wo sie oft die Philosophie auf religiöse Ideen und Theologie anwendeten. Diese Denker waren sehr skeptisch, vor allem gegenüber dem Christentum, den christlichen Dogmen, dem Glauben, Jesus Christus und den Evangelien. Feuerbach zum Beispiel vertrat die Ansicht, dass das Göttliche und Gott eine Projektion idealer Eigenschaften seien, die der Mensch aus der natürlichen Welt schöpfe. Gott sei nicht mehr als die besten Eigenschaften, die in der menschlichen Natur zu finden seien. Für Feuerbach ist die Besessenheit des Menschen von religiösen Vorstellungen eine Folge seiner Spaltung oder Entfremdung von seinem eigenen wahren Wesen.
Marx über die Religion im Jahr 1842
Im Jahr 1842 betätigt sich Marx unter Freunden als Journalist. Doch wegen der religionskritischen Haltung der Publikation drohte ihr die Zensur durch den preußischen Staat. Marx kritisiert unter anderem, dass die Religion nicht als überlebenswichtig für den Staat angesehen werden muss. Der preußische Staat basiert nicht auf dem Christentum und kann daher in keiner Weise als "theokratisch" bezeichnet werden. Dennoch sah Marx, wie die Polizei das Überleben des Christentums, der sogenannten "Religion der Herrschaft", schützte und sicherte; Marx schreibt: "Die Herrschaft der Religion ist nichts anderes als die Religion der Herrschaft, der Kult des Regierungswillens." Diese Kritik richtete sich insbesondere gegen den Staatsprotestantismus und gegen andere Formen des europäischen Staatsprotestantismus. In seinem Artikel Zur Judenfrage beschäftigte sich Marx außerdem mit dem Verhältnis von Christentum und Judentum zum Geld. Die Juden besaßen zwar keine politische Macht in Deutschland, aber sie hatten die Macht des Geldes, die mehr Gewicht hat als die politische Macht. Geld ist, schreibt Marx, der Gott des Juden: "Der Wechsel ist der wahre Gott des Juden. Sein Gott ist nur ein illusorischer Wechsel... Die chimärische Nationalität des Juden ist die Nationalität des Kaufmanns, des Mannes des Geldes im Allgemeinen." Die Grundlage der jüdischen Religion liegt in der praktischen Not und im Egoismus.
Marx über die Religion nach 1843
Marx lernte zunehmend die philosophischen Kritiken des Christentums von David Friedrich Strauss, Bauer und Feuerbach schätzen. Er schreibt, dass "der fähigste und konsequenteste Teil der protestantischen Theologen behauptet hat, [dass] das Christentum nicht mit der Vernunft in Einklang gebracht werden kann." Für Marx zeigten die philosophischen Kritiken am christlichen Glauben, dass das Christentum tatsächlich anfechtbar ist. Er schlug auch vor, dass der Staat, wenn er die unbestreitbare Akzeptanz strittiger religiöser Ideen durch die Öffentlichkeit fördert, finstere Gründe für sein Handeln haben muss. Ein solches Gefühl steckt hinter Marx' Behauptung, dass "die Kritik der Religion die Voraussetzung aller Kritik ist". Er war der festen Überzeugung, dass die Kritik der Religion und religiöser Ideen niemals als unzulässig angesehen werden sollte. Dies gilt umso mehr, als der Staat eine Religion hervorbringt, die Marx zu kritisieren sich verpflichtet fühlt. Marx wirft der Religion außerdem vor, dass sie kaum mehr ist als die "phantastische Verwirklichung des menschlichen Wesens", die "keine wahre Realität hat". Zu der Zeit, als Marx diese Anschuldigungen erhob, versuchte er, ein unterdrückerisches Regime zu stürzen. Das bedeutete, dass der Religion weniger Aufmerksamkeit zuteil wurde, da sich seine Aufmerksamkeit mehr auf die sozialen und wirtschaftlichen Realitäten richtete, die der Existenz des Staates zugrunde lagen. Ab 1844 beschäftigte sich Marx mit der Analyse der materiellen Mittel des menschlichen Lebensunterhalts und der politischen Organisation der menschlichen Gesellschaft.
Materialistische Sozialontologie
In der materialistischen Sozialontologie von Marx werden mehrere wichtige Ideen vorgestellt. Marx theoretisierte in einer Zeit, in der philosophische Debatten über Geist und Materie geführt wurden, insbesondere zwischen den beiden unterschiedlichen und sich gegenseitig ausschließenden Philosophien des Idealismus und des Materialismus. Die Idealisten vertreten die Auffassung, dass die Welt, die wir wahrnehmen, nicht aus Materie wie Atomen und Molekülen besteht, sondern vielmehr aus einer anderen immateriellen Eigenschaft oder Substanz, oder dass sie vom Geist abhängig ist. Für Idealisten stellen die Ideen des Geistes das Wesen oder die grundlegende Natur der gesamten Realität dar. Die materialistische Sichtweise lehnt diese Position ab und postuliert eine materielle Komponente in der Welt der bewussten Erfahrung. Für Marx ist die bewusste Erfahrung ein Produkt der eigenen Tätigkeit und der sozialen Existenz in der Welt. Dies ist materialistisch, weil es die menschliche Erfahrung, insbesondere die konkreten Erfahrungen von Armut, Elend, Ausbeutung und Unterdrückung, als die führenden Faktoren in der Auseinandersetzung des Menschen mit der Welt ansieht. Die Marxsche Theorie ist auch ontologisch, weil sie eine Sicht der menschlichen Natur postuliert, indem sie das Wesen des Menschen als seine soziale Natur definiert.
Marx' Vorstellung von Atheismus
Marx war Atheist, vertrat aber auch eine bestimmte Auffassung von Atheismus, die er "größtenteils eine Abstraktion" nannte. Als Abstraktion ist der Atheismus dem Glauben an Gott ähnlich und führt daher nicht zum Bruch mit religiösen Denkweisen. Der Atheismus kann folglich keine Grundlage für eine positive, weltbejahende Philosophie des Menschen und der menschlichen Erfahrung sein. Der Atheismus ersetzt lediglich den Glauben an ein vergöttlichtes Wesen, wie Gott, durch den Glauben an ein vergöttlichtes Menschenbild. Er ist daher nicht hilfreich bei der Lösung der Herausforderungen, vor denen die Unterdrückten stehen. Marx' Überzeugung wird durch seine materialistische und humanistische Gesinnung untermauert. Er versucht nicht, die Existenz Gottes oder des Übernatürlichen zu widerlegen, sondern entscheidet sich für eine historisch-materialistische Betrachtungsweise der Wirklichkeit und der menschlichen Erfahrung. Marx' Auffassung bekräftigt die materielle Welt der menschlichen Erfahrung und Vernunft. Sie ist humanistisch, weil Marx in ihr die Ideen des menschlichen Wertes, der Entwicklung, der Fähigkeiten und der Freiheit mit Vorrang behandelt.
Religion als Illusion und Entfremdung
Marx sieht in der Religion ein "illusorisches Glück des Volkes", weil sie den Menschen veranlasst, vor der realen Welt in eine tröstliche Illusion zu fliehen. Als Illusion ist Religion ein gelebtes falsches Bewusstsein, das auf einer falschen Wahrnehmung und/oder Interpretation der Wirklichkeit beruht. Obwohl falsch, entspringt die Religion dennoch einem menschlichen Bedürfnis, das eine Grundlage in der Realität hat. Wie Marx schreibt, ist die Religion kaum mehr als "der Reflex der wirklichen Welt", d. h. sie ist ein Spiegelbild einer realen, greifbaren Komponente der menschlichen Erfahrung. Diese Realität sind die Leiden der unterdrückten Klassen, für die die Religion Trost und Erfüllung bietet. Die Religion ist, schreibt Marx, "der Ausdruck des wirklichen Leidens", der den Unterdrückten Trost spendet. Die Religion überlebt auch deshalb, weil die herrschende soziale Klasse ihre Verkündigung fördert, insbesondere die des Christentums mit seiner Unterwerfungsethik. Der Staat schützt die Religion auch durch Gewalt und Zensur.
Ein weiterer Vorwurf, den Marx erhebt, lautet, dass die Religion "entfremdend" ist, weil sie das Schicksal der Menschen immer unter die Kontrolle von Kräften stellt, die nicht menschlich sind. Sie stellt das menschliche Schicksal unter die Kontrolle von nicht-menschlichen Kräften und kann daher keinen legitimen Platz in einer echten Revolution und/oder einem revolutionären Ergebnis haben. Das Christentum, so Marx, stellt die Frage nach Gott der Frage nach dem Menschen entgegen. Was immer man Gott gibt, muss man dem Menschen nehmen, was bedeutet, dass die Priorität der Religion nicht in der materiellen, sondern in der geistigen Welt liegt. Das Christentum konzentriert sich in erster Linie auf das Transzendente und die Angelegenheiten der nächsten Welt, was Marx problematisch fand. Er lehnte diesen jenseitigen Fokus entschieden ab, da er sich viel mehr mit der materiellen Welt beschäftigte, die seiner Meinung nach das menschliche Bewusstsein und die Erfahrung prägt.
Kritik an der Marxschen Religionstheorie
An der Marx'schen Religionstheorie sind mehrere Kritiken geübt worden. Die dringlichste für jeden Religionstheoretiker ist, dass Marx trotz seiner verschiedenen starken Behauptungen ein sehr begrenztes Verständnis von Religion hatte. Was er von der Religion wusste, ging nicht weit über das Christentum, insbesondere das Christentum des Staates, und ein wenig über das Judentum hinaus. Kann man auf der Grundlage eines so begrenzten Wissens wirklich so weitreichende Behauptungen über die Religion aufstellen, etwa darüber, warum Menschen religiös sind? Viele würden das Gegenteil behaupten. Wir dürfen nicht vergessen, dass Marx in einer Zeit theoretisierte, in der statistische Daten, die viele moderne Soziologen als selbstverständlich ansehen, nicht verfügbar waren. Marx konnte die demografischen Gegebenheiten nicht berücksichtigen, was darauf hindeutet, dass seine Begriffe "Christentum" und "Judentum" schlecht durchdachte Konstrukte sind.
Dies führt zum zweiten Hauptproblem, das mit der Anwendung der Marxschen Theorie auf andere Religionen zu tun hat. Viele Religionswissenschaftler sind der Meinung, dass Marx' Ideen nicht unbedingt offensichtlich sind, wenn wir an andere Religionen als das Christentum denken. Es ist zum Beispiel nicht klar, dass Marx' Theorie der Religion, die auf ihrer Entstehung aus Leid und Unterdrückung beruht, unbedingt auf die Religionen in anderen Kontexten anwendbar ist. Marx' Theorie mag einige Aspekte des Christentums in Deutschland zu seiner Zeit erklärt haben, aber erklärt sie auch die Religiosität der Daoisten oder Konfuzianer, die tausend Jahre früher in China lebten, oder der Zen-Buddhisten und Shintoisten im heutigen Japan? Wir wissen es nicht.
Darüber hinaus hat Marx viel über Religion gesagt, die sich auf das Transzendente und die Angelegenheiten der nächsten Welt konzentriert und nicht auf diese Welt. Zunächst könnte man argumentieren, dass dies für das Christentum trotz seiner ausgefeilten Lehren über das Jenseits nicht unbedingt offensichtlich ist. Aber was ist mit jenen humanistischen Religionen, die sich auf die Angelegenheiten dieser Welt konzentrieren? Im Konfuzianismus geht es vor allem um Selbstkultivierung und die Aufrechterhaltung nützlicher Beziehungen zu anderen in der Gesellschaft. Der Konfuzianismus versucht, die Bildung zu fördern und einen Staat zu errichten, der auf den Werten Fleiß, Moral, Aufrichtigkeit und Mitgefühl beruht, insbesondere in der Führung. Historisch gesehen waren die Daoisten so sehr darauf fixiert, in Harmonie mit der Natur zu leben und in diesem Leben Unsterblichkeit zu erlangen, dass sie ihr Leben eher im Hier und Jetzt als im Himmel bewahren wollten.
Darüber hinaus ist die These von Marx für die heutige Soziologie von geringem Wert. Indem er sich in erster Linie auf wirtschaftliche Faktoren konzentriert, lässt Marx zahlreiche soziale Faktoren unberücksichtigt, die Soziologen für wichtig halten, wie Verwandtschaftsstrukturen, Glaubenssätze, Gruppeninteraktion, Rollenbeziehungen usw. Vielleicht liegt der große Wert von Marx darin, dass er ein Philosoph und Proto-Soziologe war, der bestimmte Muster der Wechselbeziehung zwischen materiellen und geistigen Realitäten erkannte, die zuvor nicht berücksichtigt worden waren. Wir können auch die Unermesslichkeit der Ideen von Marx und ihren Einfluss auf spätere Revolutionäre und verschiedene politische Theoretiker nicht ignorieren.
Verwendet mit Genehmigung von James Bishop Blog.